Das OLG Hamm meinte im Urteil vom 23.07.2019 – 21 U 24/18, dass sich eine Partei in einem laufenden Honorarprozess auch nach dem Urteil des EuGH vom 04.07.2019 (EuGH, Urteil vom 04.07.2019 – C-377/17) auf eine Unter- oder Überschreitung der Mindest- oder Höchstsätze des § 7 HOAI berufen dürfe.

  • Wurde eine Honorarvereinbarung nicht in Einklang mit § 7 Abs. 3 HOAI getroffen, so habe dies nach Ansicht des OLG Hamm die Konsequenz, dass der Mindestsatz nach § 7 Abs. 5 HOAI abgerechnet werden könne.
  • Das OLG Hamm meint wohl sogar, dass das EuGH vom Urteil vom 04.07.2019 – C-377/17 gar nicht zur Unanwendbarkeit der Mindestsätze des § 7 HOAI führe. Das Urteil des EuGH solle nur den betroffenen Mitgliedstaat binden. Dieser habe nach eigenem Ermessen geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den europarechtswidrig (besser: unionsrechtswidrig) Zustand abzustellen. Für den einzelnen Unionsbürger soll von dem Urteil keine Rechtswirkung ausgehen.
  • Jedenfalls ändere die Feststellung der Europarechtswidrigkeit nichts daran, dass zum Zeitpunkt des Verstoßes die HOAI zu beachten gewesen sei. Denn es gäbe insofern keine Rückwirkung. Auch fände die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie unmittelbar heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen.*

Zumindest die Begründung diese Entscheidung dürfte unzutreffend sein. Denn die nationalen Gerichte dürfen wegen des Anwendungsvorrangs des Europarechts (besser: Unionsrecht) die für unionsrechtswidrig erkannte Regelung nicht anwenden, wie das OLG Celle im Urteil vom 17.07.2019 – 14 U 188/18 und im Urteil vom 23.07.2019 – 14 U 182/18 erkannte.

  • Die Rechtsprechung des EuGH ist keine Rechtsetzung, die zurückwirken kann. Vielmehr hat der EuGH nur das Recht, die unmittelbare Anwendbarkeit der nicht umgesetzten EU-Richtlinie zu erkennen. Hier muss man sich an die Gewaltenteilung halten und darf den – manchmal rechtsfortbildenden – EuGH nicht mit dem Argument einer Rechtsschöpfung zum Gesetzgeber machen wollen, zumal es hier nur um eine Rechtsauslegung ging. Schon vor dem EuGH-Urteil wurde fast überwiegend vertreten, dass die Unter- oder Überschreitung der Mindest- oder Höchstsätze des § 7 HOAI unionsrechtswidrig ist.
  • Die nationalen Gerichte sind verpflichtet, die Beachtung der EU-Richtlinie sicherzustellen. Es ist nicht erforderlich, dass zuvor unionsrechtswidrige nationale Gesetze oder Verordnungen aufgehoben werden. Es gilt der Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts.

Das berücksichtigt auch die Stellungnahme des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom 04.07.2019. Dessen Rechtsansicht lässt sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Die Mindest- und Höchstsätze der HOAI sind unionsrechtswidrig (EuGH, Urteil vom 04.07.2019 – C-377/17). Wegen des Anwendungsvorranges des Europarechts sind die Gerichte verpflichtet, diese unionsrechtswidrig Regelungen der HOAI nicht mehr anzuwenden.
  2. Damit ist auch die Mindestsatzfiktion des § 7 Abs. 5 HOAI gegenstandslos.
  3. Die EU-Richtlinie hat in laufenden Verfahren und bestehenden Vertragsverhältnissen Vorrang vor dem abweichenden nationalen Preisrecht.
  4. Honorarvereinbarungen sind also nicht deshalb unwirksam, weil sie die Mindestsätze der HOAI unterschreiten oder deren Höchstsätze überschreiten. Infolge der EU-Richtlinien ist keine Honorarvereinbarung an den Mindest- und Höchstsätzen der HOAI zu messen. Honorarvereinbarungen, die das Preisrecht der HOAI ignorieren, sind wirksam.

*Das Urteil des OLG Hamm kann aber als Einzelfallentscheidung dennoch gerechtfertigt werden, soweit es den Vertrauensschutz der vertragschließenden Parteien im konkreten Sachverhalt im Fokus hatte. Denn bis zur Entscheidung des EuGH war gemeinhin nicht bekannt, dass durch die EU-Dienstleistungsrichtlinie das nationale Mindest- und Höchstpreisrecht der HOAI außer Anwendung gesetzt worden war.